«Sappho» und die französische Plastik
«Sappho», die bedeutende Bronzeskulptur des
französischen Bildhauers
Antoine Bourdelle * 1861 Montauban † 1929 Le Vésinet
ist einer aufwändigen
Restaurierung unterzogen worden. Vom 21. März bis 6. Juli 2014 wird sie im
Kontext einer temporären Sammlungspräsentation mit Plastiken von u.a. Auguste Rodin (* 1840 Paris † 1917 Meudon), Henri Matisse (* 1869 Le Cateau-Chembrésis † 1954 Nizza), Henri Laurens und Alberto Giacometti (* 1901 Borgonovo † 1966 Chur) präsentiert. Die Ausstellung zeigt in kompakter Form die Entwicklung dieses Bestandes am
Kunsthaus auf.
Der aus Südwestfrankreich stammende Bildhauer
Antoine Bourdelle bildet mit Auguste Rodin und Aristide Maillol das Dreigestirn
der frühmodernen französischen Plastik. Von intimen, kleinformatigen Arbeiten
bis zu grossen öffentlichen Auftragsarbeiten hat Bourdelle, der bereits zu
Lebzeiten weltweite Anerkennung erfuhr, alle Formate gepflegt. Sein Hauptthema
ist die menschliche Figur, häufig dargestellt in mythologischen Kontexten.
Letzteres gilt teilweise auch für die drei wichtigen Bronzen im Kunsthaus
Zürich: «Apollon (Masque)» von 1900, eine Darstellung des Gesichtes von Apoll,
dem griechischen Gott der Musik und der Dichtkunst, sodann «Beethoven» von
1902, eine Porträtbüste des grossen Komponisten – und «Sappho» von 1887/1925.
ÜBERLEBENSGROSSE
DICHTERIN DER ANTIKE
Bei
«Sappho» handelt es sich um eine monumentale Darstellung der gleichnamigen
grössten Dichterin der Antike. Auf einer kleinen Erhöhung kauernd, trägt sie
eine grosse Lyra bei sich. Vom hochgereckten grossen rechten Zeh bis zur nach
oben gehaltenen rechten Hand ist ihre ganze Gestalt von einer starken Spannung
erfüllt, die sich auch in den Falten ihres Kleides manifestiert. Sappho hat den
Kopf gebeugt. Ihre rechte Hand verbindet sich darüber mit der Form des
Instrumentes, vielleicht zählt die Dichterin gerade, tief versunken, das
Versmass eines Gedichtes ab. Sapphos grosses Thema ist die Liebe – und die
Verehrung für die Liebesgöttin Aphrodite. Bourdelle beschäftigte sich mehrere
Male mit seiner Sappho-Komposition. Eine erste Fassung, nur 28 cm gross,
entstand 1887. 1924 realisierte Bourdelle eine Bronze von 70 cm Höhe. Im Jahr
darauf dann die in sieben Güssen existierende monumentale Bronze. Das im
Kunsthaus aufbewahrte, überlebensgrosse Exemplar stammt von 1925. Dieses Werk
ist für die Zeit ab der Eröffnung des Erweiterungsbaus für eine Platzierung im
Garten der Kunst im Gespräch.
Die Restaurierung von Bourdelles Werk folgte auf
Projekte zur Konservierung von Plastiken Maillols und Rodins. Nun steht der
bedeutende Kunsthaus-Bestand an französischen (oder wie im Falle von Constantin
Brancusi und Alberto Giacometti mit Frankreich als Land der Entstehung
verbundenen) Plastiken der Klassischen Moderne wieder vollzählig und in gutem
Zustand zur Verfügung. Dies bietet Gelegenheit für einen Blick zurück.
AM
ANFANG STAND RODIN
Die
erste Erwerbung einer Plastik eines massgeblichen französischen Meisters der
(frühen) Moderne galt 1910 Auguste Rodins Gips-Fassung von «La prière» – eine
stehende weibliche Figur, 1909 in für Rodin kennzeichnender Weise als Torso
gestaltet. Das Werk wurde direkt vom Künstler erworben. In den Jahren 1925–31
kamen dann vier Bronzeplastiken von Aristide Maillol ins Kunsthaus, darunter
1925 «Jeunesse» (1910) und 1931 die monumentale «Vénus au collier». Im Jahre
1935 folgte ein weiterer Rodin, die liegende Bronze-Figur «La martyre» – ein
Ankauf der Vereinigung Zürcher Kunstfreunde (VZK) – die oft im
Monet-Seerosensaal ausgestellt ist. Das gleiche Jahr brachte den Eingang einer
dezidiert modernen Skulptur, Henri Laurens‘ kleine Terrakotta «Femme assise au
bras levé» (1930). Das Jahr 1946 brachte den Eingang von zwei ersten Werken von
Germaine Richier. Im Jahre 1948 erhielt das Kunsthaus ein vom Geist des
Kubismus geprägtes Werk geschenkt, Raymond Duchamp-Villons «Tête de cheval»
(1914). Abgesehen davon waren die Jahre 1948/49 von Rodin geprägt, von dem
gleich fünf Werke Eingang fanden, darunter eine Einzelfigur der «Bürger von
Calais», die provokative «Iris, messagère des dieux» von 1890/91 und das
monumentale «Höllentor» von 1880–1917, in dem Rodins ganzes Schaffen gipfelt. Im
gleichen Jahr tauchte in Gestalt des subtilen Werkes «Apollon (Masque)»
erstmals auch Antoine Bourdelle im Kunsthaus auf.
VON
BOURDELLES «SAPPHO» ZU MATISSE‘ RÜCKENAKTEN
Die
1950er Jahre brachten u.a. drei bedeutende Figurenplastiken: 1951 Richiers «Pomona»,
1957 dann die bereits 1951 vom Giesser Alexis Rudier als Geschenk bestimmte
«Sappho» Bourdelles und 1959 ein besonders wichtiger Rodin, «L’âge d’airain»,
ein frühes Hauptwerk von 1875/76. Von besonderem Gewicht war 1960 die Erwerbung
von Henri Matisse‘ kapitalen vier «Rückenakten» aus den Jahren 1909, 1913,
1916/17 und 1930. Diese Werke gehören zu den mit Abstand bedeutendsten Werken
der Plastik der Moderne und wurden mit Beiträgen des Kantons und der VZK von
der Tochter des Künstlers erworben. Matisse war (wie zeitweilig Alberto
Giacometti) ein Schüler Bourdelles.
SCHENKUNGEN
AUS DER SAMMLUNG WERNER UND NELLY BÄR
1961
gelangte als Geschenk der Erben Franz Meyer Henri Laurens‘ monumentale «La
grande musicienne» ans Kunsthaus. 1967 kam dann ein erstes Geschenk von Nelly
Bär aus der Sammlung Werner und Nelly Bär ans Haus, der monumentale posthume
Guss von Maillols «Monument à Cézanne». Ein Jahr später folgte ein ganzes
Konvolut an grossherzigen Schenkungen aus dieser Sammlung, darunter Rodins
«Femme accroupie» und «Balzac», Bourdelles «Beethoven», ein früher Kopf
Picassos, sowie zwei kleinere Plastiken von Matisse. Insgesamt konnte während
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein bedeutender Bestand zusammengetragen
werden, von dem jetzt mit «Sappho» ein weiteres Hauptwerk wieder präsentiert
werden kann.
PICASSO
BIS GIACOMETTI: IN FRANKREICH TÄTIGE BILDHAUER ANDERER HERKUNFT
Von
der Plastik der Franzosen selber nicht zu trennen sind Werke zentraler
Bildhauer der Moderne, die lange in Frankreich lebten und dort grosse Teile
ihres Werkes schufen. Einer ihrer bedeutendsten Vertreter ist Pablo Picasso. Im
Jahr 1944 erfolgte mit dem Erwerb seiner kubistischen «Tête de femme
(Fernande)» von 1909 der bis anhin wohl radikalste Ankauf moderner Plastik des
Kunsthauses. Wenig später, 1948, kamen aus einer Schenkung drei Werke von
Jacques Lipchitz ans Haus. Im Jahre 1954 folgte durch einen Kauf der
Vereinigung Zürcher Kunstfreunde direkt beim Künstler der erste Erwerb einer
Plastik von Constantin Brancusi, «L’oiseau dans l‘espace» (1925–31) –
bereichert 1984 dank eines Legats mit «Muse endormie II», um 1925. Für das
Kunsthaus besonders bedeutend ist die Präsenz des grössten Schweizer Künstlers
des 20. Jahrhunderts, Alberto Giacometti, der ebenfalls grosse Teile seiner
künstlerischen Laufbahn in Paris verbachte. 1954 – neun Jahre vor Entstehung
der Alberto Giacometti-Stiftung – zog ein erstes Hauptwerk von ihm, die Bronze
«L'homme qui chavire» (1950), ins Kunsthaus ein.
BURCKHARDT
BIS BASELITZ: KONTINUITÄT UND NEUE KONZEPTE
Das
Kunsthaus besitzt nicht nur französische oder mit Frankreich als
Entstehungsland verbundene Skulpturen der Klassischen Moderne. Abgesehen von
Alberto Giacometti ist etwa in Gestalt der jüngst in die Sammlung eingegangenen
«Venus» von Carl Burckhardt die schweizerische Plastik mit schönen Beständen
vertreten. Zudem zeigt es Skulpturen aus Italien (Umberto Boccioni, Marino
Marini), aus England (Henry Moore), Spanien (Joan Miró, Eduardo Chillida) und
aus Deutschland. Aus dem Bereich der deutschen Plastik sind etwa Ernst Barlach
und Wilhelm Lehmbruck zu nennen, oder der wiederum vor allem in der Schweiz
aktive Hermann Scherer, die mit ausgezeichneten Werken vertreten sind. Weitet
man die Suche über die Klassische Moderne im engeren Sinne aus, stösst man auf
die Holzskulpturen von Georg Baselitz. Der wichtigste Bestand an Skulpturen aus
der Zeit der noch nicht vollends klassisch gewordenen späteren Moderne stammt
dann aber von einem amerikanischen Künstler: >> Cy Twombly (* 1929 Lexington † 2011 Rom). Im Jahr 1994 schenkte
Twombly dem Kunsthaus Zürich eine ganze Gruppe bedeutender Skulpturen.
Insgesamt ist festzustellen, dass die französische Tradition im Bereich der
Skulptur der Klassischen Moderne im Kunsthaus besonders stark vertreten ist.
Die durch Bourdelle in die Moderne geholte, eindrucksvolle Figur der antiken
Dichterin Sappho kann – frisch restauriert – als bedeutendes Beispiel für die
hervorragend Qualität der Bestände gelten. Vom 21. März bis 6. Juli 2014 wird
sie im Kontext einer temporären Sammlungspräsentation mit Plastiken
insbesondere von Auguste Rodin, Henri Matisse, Henri Laurens und Alberto
Giacometti präsentiert. (Text: Kunsthaus Zürich)